Inkrementelle oder disruptive Entwicklung?

Warum inkrementelle Entwicklung fast immer die bessere Wahl ist – und warum „disruptive“ Entwicklung meist ein selbst verursachtes Problem darstellt

In Technologieorganisationen wird „inkrementelle vs. disruptive Entwicklung“ oft als strategische Wahl dargestellt. In Wirklichkeit ist inkrementelle Entwicklung fast immer der überlegene, nachhaltigere Ansatz, während disruptive Entwicklungen häufig das Ergebnis von aufgestauter technischer Schuld, überhasteten Releases und unzureichender Qualitätsdisziplin sind.

Die romantische Vorstellung einer disruptiven „Neuentwicklung auf der grünen Wiese“ verdeckt oft eine unangenehme Wahrheit: Disruptive Projekte zahlen in vielen Fällen lediglich die Rechnung für Entscheidungen, die Jahre zuvor getroffen wurden.

Dieser Artikel zeigt, warum inkrementelles Vorgehen der Standard sein sollte, warum disruptive Entwicklung überwiegend Symptome früherer Fehler sind und wie Organisationen vermeiden können, immer wieder in solche Zyklen zu geraten.

Warum inkrementelle Entwicklung in den meisten Fällen die bessere Wahl ist

Inkrementelle Entwicklung erhält Kontinuität und Wert

Inkrementelle Entwicklung verbessert das System, das Kund:innen bereits nutzen. Jeder Schritt:

  • liefert früher Mehrwert,

  • reduziert Risiko durch kurze Feedbackschleifen,

  • nutzt bestehendes Architektur- und Domänenwissen,

  • vermeidet teure Komplettablösungen.

Damit ist inkrementelle Entwicklung der einzige Ansatz, der wirklich zu kontinuierlicher Produktevolution passt.

Inkrementelles Vorgehen bewältigt Komplexität besser

Komplexität steigt natürlicherweise im Lebenszyklus jedes Systems. Inkrementelle Entwicklung hält sie beherrschbar durch:

  • kleine, klar abgegrenzte Änderungen,

  • sichere Refactorings,

  • regelmäßige Architektur- und Code-Verbesserungen,

  • schrittweisen Austausch veralteter Komponenten.

Da jeder Schritt überschaubar bleibt, wird Komplexität nicht zu einem unkontrollierbaren Risiko.

Inkrementelle Entwicklung verhindert die „Big Rewrite“-Falle

Der größte Vorteil inkrementeller Arbeit ist einfach:
Sie verhindert, dass disruptive Neuentwicklungen überhaupt notwendig werden.

Teams, die inkrementell und diszipliniert arbeiten:

  • managen technische Schuld kontinuierlich,

  • erhalten architektonische Qualität,

  • vermeiden verfrühte Releases,

  • halten das System gesund und veränderbar.

Wenn diese Prinzipien eingehalten werden, entsteht selten der Bedarf, das ganze System neu zu bauen.


Warum Organisationen dennoch in disruptive Entwicklungszyklen geraten – die wahren Ursachen

Trotz der Vorteile inkrementeller Entwicklung planen viele Organisationen irgendwann eine große disruptive Ablösung. Die Ursachen dafür sind meist keine visionären Strategien, sondern:

Zu frühe Veröffentlichung eines unausgereiften Produkts

Wenn Organisationen ein MVP in die Produktion drücken, bevor es technisch tragfähig ist – mit fehlenden Funktionen, schwacher Architektur und minimalem Testaufwand – entsteht schnell massive technische Schuld.

Die Folgen:

  • Wartung wird mühsam,

  • neue Features dauern immer länger,

  • das System wird empfindlich und schwer zu ändern.

Irgendwann heißt es dann:
„Wir müssen ganz von vorne anfangen.“

Über Jahre nicht abgebaute technische Schuld

Technische Schuld ist nicht per se schlecht – unverwaltete Schuld jedoch schon.

Wer nie in Refactorings, Architekturpflege oder Modularisierung investiert, erzeugt Systeme, die:

  • fragil sind,

  • kaum testbar sind,

  • schwer zu erweitern sind,

  • nur unter großen Risiken verändert werden können.

Disruptive Neuentwicklungen sind oft die letzte Möglichkeit, ein verschuldetes System wieder sinnvoll weiterzuentwickeln – aber sie wären vermeidbar gewesen.

Fehlende architektonische Disziplin

Viele disruptive Initiativen haben ihren Ursprung in schwachen architektonischen Grundlagen:

  • fehlende Grenzen,

  • inkonsistente Datenmodelle,

  • enge Kopplung,

  • kurzfristige Lösungen unter Zeitdruck.

Regelmäßige inkrementelle Architekturarbeit hätte das verhindert.

Organisatorische Ungeduld und „Einfach raus damit“-Kultur

Manche Organisationen drängen Produkte aus Marktdruck zu früh auf den Markt.
Oft wird das fälschlich als „agil“ bezeichnet, obwohl es riskant und kurzfristig ist.

Diese frühen Abkürzungen rächen sich später – und die Rechnung lautet fast immer: disruptive Neuentwicklung.


Die versteckten Kosten und Risiken disruptiver Entwicklung

Disruptive Vorhaben wirken verlockend („endlich alles richtig machen“), bergen jedoch enorme Risiken:

  • Extrem hohe Kosten

  • Lange Zeiträume ohne sichtbaren Kundennutzen

  • Unsicherheit über funktionale Parität

  • Altsystem entwickelt sich weiter → doppelte Arbeit

  • Hohe Risiken bei Datenmigrationen

  • Verpasste Marktchancen, da das alte System stehen bleibt

  • Belastung und Demotivation der Teams

Disruptive Entwicklung ist kein strategischer Vorteil.
Sie ist meist ein Notfallplan, wenn inkrementelle Wege unpassierbar geworden sind – typischerweise durch frühere Fehlentscheidungen.


Wann disruptive Entwicklung tatsächlich sinnvoll ist

Ein disruptiver Ersatz ist nur in wenigen Ausnahmefällen gerechtfertigt:

  1. Die aktuelle Architektur verhindert zwingende Geschäftsanforderungen
    (z. B. Performanzgrenzen, regulatorische Blockaden).

  2. Das System ist aufgrund extremer technischer Schuld praktisch nicht mehr veränderbar.

  3. Ein radikal neuer Produktansatz ist notwendig, der im alten System nicht abbildbar ist.

  4. Technologiewechsel, die keine inkrementelle Migration zulassen
    (z. B. veraltete Hardwareplattformen oder Libraries ohne Upgrade-Pfad).

Selbst dann ist der beste Ansatz selten ein „Big Bang“, sondern eine schrittweise Ablösung (Strangler Pattern, modulare Migration).


Organisationale Dynamiken: Warum inkrementell schwer ist – und disruptiv verführerisch wirkt

Interne Teams bevorzugen inkrementelles Arbeiten

Sie kennen das System, verstehen die Abhängigkeiten und schätzen Stabilität.

Externe Teams favorisieren oft disruptive Neuentwicklungen

Ihnen fehlt tiefes Systemwissen, und Greenfield-Projekte sind für externe Dienstleister einfacher zu verkaufen und zu kalkulieren.

Die eigentliche Frage

Kann ein einzelnes Team das Altsystem betreiben UND parallel eine disruptive Neuentwicklung umsetzen?
In der Praxis selten.

Ein Run/Build-Modell (zwei Teams) funktioniert nur dann, wenn disruptive Entwicklung wirklich notwendig ist – nicht als Standardlösung.

Wenn eine Organisation Teams trennen muss, ist das oft ein Zeichen, dass die technische Schuld bereits sehr hoch ist.


Die zentrale Botschaft: Disruptive Entwicklung ist meist vermeidbar

Disruptive Entwicklung sollte nicht als Innovationsmotor verklärt werden.
Sie ist häufig das Ergebnis von:

  • nicht gepflegter technischer Schuld,

  • fehlender Architekturdisziplin,

  • unzureichender Qualitätssicherung,

  • verfrühten Releases,

  • mangelnder Investition in langfristige Nachhaltigkeit.

Hätte die Organisation konsequent inkrementell mit klaren Qualitäts- und Architekturstandards gearbeitet, wäre die disruptive Neuentwicklung wahrscheinlich nie notwendig geworden.


Wie man disruptive Entwicklungen dauerhaft vermeidet

1. Technische Schuld sichtbar und aktiv managen

Fixe Kapazität für Refactoring, Architekturpflege und Modernisierung einplanen.

2. Inkrementell releasen – aber nicht zu früh

„Minimal Viable“ darf nicht bedeuten, dass die technische Basis untragfähig ist.

3. Stabile Schnittstellen und modulare Architektur pflegen

So können Teile des Systems schrittweise ersetzt werden.

4. In Qualität investieren

Automatisiertes Testen, CI/CD, Code Reviews, Lasttests – kleine Investitionen mit großer Wirkung.

5. Architektur kontinuierlich evaluieren

Regelmäßige iterative Architekturverbesserungen sind der beste Schutz vor disruptiven Neuentwicklungen.


Fazit

Inkrementelle Entwicklung ist nicht nur der sicherere Weg – sie ist eine Philosophie der nachhaltigen Evolution.
Sie ermöglicht stabile Weiterentwicklung, beherrschbare Risiken und kontinuierliche Wertschöpfung.

Disruptive Entwicklung hingegen ist selten eine strategische Meisterleistung, sondern meist das Resultat früherer Versäumnisse.

Die erfolgreichsten Organisationen sind nicht die, die am häufigsten neu entwickeln.
Es sind jene, die ihre Systeme so pflegen und weiterentwickeln,
dass sie es gar nicht müssen.

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