Moderne interdisziplinäre Organisationen

In der Organisationstheorie wird zwischen der Aufbauorganisation und der Ablauforganisation unterschieden. In klassischen Organisationen entspricht der Aufbauorganisation die Abteilungsstruktur, wobei diese meist funktionalen Einheiten bilden und damit spezialisierte Mitarbeiter zusammenfassen (z.B. Vertrieb, Produktion)*. Die klassische Ablauforganisation wird dabei entweder über Arbeitsprozesse geregelt, die die Verantwortlichkeiten der Abteilungen und die Übergaben zwischen den Abteilungen regeln.

Eine zweite immer häufiger genutzte klassische Ablauforganisation ist das Projekt mit seiner eigenen Organisationsstruktur. Dadurch entsteht die sogenannte Matrixorganisation aus Projekt und Abteilung. Durch die immer stärkere Nutzung von Projekten und die sich daraus ergebende Zuweisung von Mitarbeitern zu mehreren Projekten, entstehen immer komplexere und kleinteiligere Arbeitsstrukturen. Dies wird ausführlich im Artikel „Das Monopol der Projekte“ beschrieben.

Wege zu weniger Komplexität und mehr Übersicht

Nun gibt es verschiedene Ansätze zur Transformation der klassischen Struktur der Ablauforganisation durch Lean und agile Ansätze.

Kanban & Scrum im Projekt, aber …

Ein Ansatz ist die Nutzung von Scrum für das Projektmanagement. Dies funktioniert recht gut für Projekte, die über einen längeren Zeitraum von mindesten drei Monaten laufen, bei eingespielten und mit Scrum erfahrenen Team-Mitgliedern auch ab kürzeren Zeiträumen. Ein zweiter noch wichtigerer Faktor ist, dass die Team-Mitglieder zu mindesten 50%  für das Projekt arbeiten und zwar alle zu den gleichen 50& Zeit; 100% sind dabei anzustreben. Wenn dies nicht gegeben ist, funktioniert der Ansatz „Scrum im Projekt“ auch nicht. Man stelle sich Mitarbeiter vor, die in drei bis fünf Scrum-Projekten gleichzeitig arbeiten und dabei alle Meetings und Events besuchen sollen. Mehr dazu im Artikel „Wenn es doch ein Projekt sein muss …“. Ich vergleiche das gerne mit dem Bild, Mitglied in mehreren Familien zu sein.

Kanban & Scrum in der Organisation

Weitgehender Verzicht auf  Trennung von Aufbau- und Ablauforganisation

Zur Reduktion von Komplexität in der Organisationsstruktur verzichten die organisationsweiten agilen und Lean-Ansätze auf die Trennung von Aufbau- und Ablauforganisation! Dies hat gleich mehrere Vorteile.

  • Jeder Mitarbeiter hat nur noch einen Chef, der Prioritäten festlegt (nämlich den Team-Product-Owner)
  • Langlebige Teams führen zu engeren menschlichen Beziehungen (siehe dazu auch …)
  • Mitarbeiter eines Teams sitzen und arbeiten auch zusammen
  • Team-Mitglieder lernen voneinander und können einander ergänzen oder sogar vertreten.

Kanban für das Management der Arbeitsabläufe in funktional strukturierten Organisationen

Die bereits oben erwähnte funktionale Aufbauorganisation mit der Steuerung durch Arbeitsprozesse lässt sich gut durch Kanban-Boards darstellen. Hierbei gehen wir meist von einem einfachen linearen Ablauf aus. Dies funktioniert allerdings nur bei einem geringen Komplexitätsgrad, da interdisziplinäre bzw. cross-funktionale Arbeit nur ad-hoc oder per Meeting stattfindet.

Der Lean-/Kanban-Ansatz macht im ersten Schritt die Menge an Arbeit über alle Abteilungen und Schritte sichtbar und verwendet dafür ein Kanban-Board. Dieses sollte zentral verfügbar sein, um eine größtmögliche Transparenz zu erzeugen.

Vorteile

  • Für die Einführung von Kanban müssen die Fachabteilungen nicht umstrukturiert werden und sowohl die Mitarbeiter also auch die Manager können in ihren Abteilungen verbleiben. Dadurch wird eine wesentliche Eingangshürde umgangen
  • Mitarbeiter mit gleichem Wissen arbeiten zusammen, können sich dadurch gegenseitig unterstützen, vertreten und ausbilden. Dadurch kann jede Abteilung mit größtmöglicher Effizient und Auslastung arbeiten. Da die Mitarbeiter jedoch häufig für verschiedene Projekte arbeiten, haben sie trotzdem nur wenig miteinander zu tun.

Nachteile

  • Es bringt wenig, nur eine oder wenige Abteilungen mit Kanban zu organisieren, da erst die Sicht auf den gesamten Arbeitsfluss die Flaschenhälse/Engpässe und Warteschlangen zeigen. Trotz guter Erfolge mit Kanban in einer Abteilung, hängt der Gesamterfolg daran, dass der Arbeitsfluss über alle Abteilungen verbessert wird.
  • Durch die hohe Spezialisierung durchläuft ein Arbeitsgang viele Abteilungen mit dementsprechend vielen Übergaben (Handover)
  • Die Auslastung des Gesamtsystems ist begrenzt durch die Kapazität am Engpass. Die Mitarbeiter in der „Engpass-Abteilung“ sind überlastet und wenig motiviert. Alle anderen Mitarbeiter sind eher unterlastet und müssen sich daher Arbeit suchen, um nicht faul auszusehen. Auch dies schadet der Motivation.

Die genannten Nachteile schmälern leider die Vorteile von Kanban als einfachen Einstieg in funktionalen Silo-Abteilungen. Aus globaler Sicht werden die Vorteil zumal nicht sichtbar und ermuntern nicht dazu zusätzliche Abteilungen zu involvieren.

Eine andere Möglichkeit sind kleine interdisziplinäre Teams. Ein wichtiger Treiber in diese Richtung ist die „Kundennähe“ in jeglicher Hinsicht, sowohl physisch, organisatorisch und persönlich.

Agiler und selbstorganisierter Ansatz interdisziplinärer Teams

Hierbei ist nun die Idee, dass kleine interdisziplinäre Teams einen Teil der Kunden betreuen. Dies haben viele Organisationen in den frühen 2000er Jahren erkannt und haben lokale Vertriebs- und Marketing-Teams innerhalb der betreffenden Regionen gegründet.

Auch die Boards der interdisziplinären Teams werden dabei einfacher:

Vorteile

  • Interdisziplinäre Business-Teams haben Produktverantwortung und die Verantwortung für deren Kunden (end-to-end responsibility)
  • Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Team ist möglich und wird gefördert
  • Schnellerer Arbeitsfluss durch weniger Übergaben (Hand-over). Dadurch werden die Dinge schneller fertig

Nachteile

  • Die interdisziplinäre Arbeitsweise ist nicht für jedes Team gleichermaßen geeignet
  • Experten brauchen die zusätzliche Möglichkeit des fachlichen Austauschs (z.B, über sogn. „Communities of Practice“)

Prominente Beispiele sind:

  • Zollner Elektronik AG, ein deutscher Elektronikdienstleister mit über 11000 Mitarbeitern. Trotz der Größe ist es Zollner sehr erfolgreich gelungen, mit seinen vielen kleinen und mittleren Kunden persönliche Beziehungen aufzubauen und dabei, durch seine Größe, sehr günstig zu einzukaufen und zu produzieren.
  • dm Drogeriemarkt mit über 62000 Mitarbeitern in über 3700 Filialen in 13 Ländern. Der Erfolg beruht auf der Maxime „Alle Macht den Filialen“.

Den gleichen Ansatz können wir auch innerhalb der Produktentwicklungsorganisation nutzen. Hier sind:

  • die Kunden die anfordernden Business Units
  • die Aufträge des Kunden sind die Entwicklungsprojekte und
  • die internen Abteilungen sind die Fachabteilungen innerhalb der Produktentwicklung.

Der Ansatz hat viele Vorteile, stellt aber auch eine große Herausforderung für die weiterhin global agierenden Teams dar, da diese nun mit vielen internen „Kunden“ umgehen müssen, die ausschließlich ihre lokalen Interessen sehen. Dies lässt sich aber durch eine konsequente globale Priorisierung lösen.

Das P4-Framework (P4-Dev.com) unterstützt das Prinzip der lokalen Nähe und der kleinen interdisziplinären Teams durch seine Organisationsstruktur, die auch in der Produktentwicklung angewendet wird. Hierbei können die Produkte & Applikationen pro Marktsegment in kleinen interdisziplinären Teams entwickelt werden. Die Modul- & Plattformentwicklung kann dabei zentral agieren. Das gleich gilt auch für die kundennahen Teams im Operationsbereich (P4-Ops).


Fußnoten

*) Klassische Aufbauorganisationen werden leider häufig dadurch beeinflusst, dass Abteilungen für einzelne Manager geschaffen werden. Solche Manager definieren ihre Stellung in der Organisation auch oft über die Anzahl der Untergebenen.

Titelbild von freepik.

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